Österreich ist wie kaum ein anderes Land mittlerweise wieder sehr EU-skeptisch eingestellt - um es vorsichtig zu benennen...
Die Ausländerfreundlichkeit in Österreich ist ob des massiven Zuzugs von Wirtschaftsflüchtlingen (Türkei, Ex-Jugoslawien, Osten etc.) ohnehin schon sehr beschränkt - teilweise auch durchaus verständlich. Sozial schwächere Schichten Österreichs und zusehends auch wieder der Mittelstand stärken mit ihrer Proteststimme mehr oder minder rechte Parteien und schimpfen wie die Rohrspatzen auf die EU.
Zumeist sind es immer die gleichen Angriffspunkte in Sachen EU:
Alles Vorwürfe, die der sogenannte Hausverstand mit einiger Sicherheit so sieht - und doch hat jedes Ding zwei Seiten:
Die hohe Zahl an Gastarbeitern (folglich zumeist Immigranten) in vielen Regionen und Städten Österreichs resultiert nicht aus dem EU-Beitritt. Österreich hat schon vor dem EU-Beitritt kräftig Gastarbeiter ohne Konzept und Plan (bzw. guter Ausbildung der Gastarbeiterkinder) einwandern lassen - welche zuhauf dann auch die österreichische Staatsbürgerschaft erhielten und einige Verwandte (im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten) nachholten.
Die Türkei ist z.B. kein EU-Land - die Zuwanderungsquoten bezüglich Türken waren immer hausgemacht - und da hatte die Industrie in Jahren der relativen Vollbeschäftigung jede Menge Freude mit billigen und willigen Gastarbeitern. Für die Zeit nach deren Beschäftigung war kein Konzept vorhanden - für die mangelnde Integration dieser Menschen auch nicht. Danke ÖVP und SPÖ (sowie auch ein wenig der FPÖ - die hat nämlich dabei auch fleißig mitgemacht...)
Das Argument "Arbeit wegnehmen" ist relativ - denn wer in der Vergangenheit arbeiten WOLLTE (Wirtschaftskrisen ausgenommen) und konnte, hat immer eine Arbeit bekommen. Gute Arbeiter (egal ob Österreicher oder Ausländer) waren fast immer gefragt. In wirtschaftlich schlechteren Zeiten möchte man dann aber auch seitens Politik mit diesen Leuten nichts mehr zu tun haben...ein Armutszeugnis.
In Sachen Grenzsicherung hat man tatsächlich wohl ein wenig zu früh agiert: Viele neue EU-Länder (Rumänien, Bulgarien etc.) hätten noch ein wenig Zeit für die Erledigung von Hausaufgaben (Stärkung der individuellen Kaufkraft, des Bildungswesens, der Grenzsicherung etc.) gebraucht. Nun aber die Grenzen wieder dicht zu machen, wäre ein falsches Signal. Wenn schon, dann besser einige Schwerpunktkontrollen auf Zufahrtsstraßen, Hilfe für die neuen Schengen-Außengrenzen durch Österreich, Polizei stärken und die relativ erfolglose und zahnlose (bzw. teure) Grenzsicherung des Bundesheeres streichen.
In Sachen Bürokratie darf darauf verwiesen werden, dass in Wien fast 30.000 Magistratsbedienstete werken - in der EU sind es knapp über 40.000 Stellen. Ohne Worte...
EU-Recht ersetzt heimisches Recht: Warum - zurecht! Wenn sich Länder antiquierte Rechtslagen leisten, so macht ein einheitliches Europarecht in vielen Fragen durchaus Sinn. Wer hier nur die nationale Brille verwendet, sollte seinen Horizont erweitern. Was aber nicht heißt, dass die EU immer und für alle Zeiten recht hat. Auch EU-Entscheidungen wurden schon revidiert.
Darüber hinaus ist es wohl schwerer, eine gesamte EU-Kommission zu bestechen als vielleicht einzelne lokale Entscheidungsträger.
EU-Zahlungen nach Brüssel zu hoch? Über die Höhe kann man wohl immer streiten. Tatsache ist es aber, dass ein gemeinsames Europa von den reicheren Staaten auch mehr kassieren muss - um den ärmeren Staaten (und Regionen) den wirtschaftlichen Anschluss zu ermöglichen. Die Folge: Weniger Wirtschaftsflüchtlinge in den reichen Länder.
Das Burgenland bzw. deren Lokalpolitiker sollten eigentlich von der EU kräftig schwärmen...
Schlechtere Lebensmittel? Ja natürlich - aber diese müssen Sie ja nicht kaufen. Die nämlich zumeist billiger als die heimischen Produkte. Wer Qualität schätzt, muss eben ein wenig tiefer in die Tasche greifen bzw. gezielt einkaufen. Die Auswahl hat sich jedenfalls massiv verbreitet: Machen Sie nur einen Blick auf das Weinsortiment im Supermarkt. Früher voll mit Dopplern;-)
Die Gurkenkrümmung sowie die Schildläuse im Joghurt (Haider) können Sie getrost vergessen. Pure Angstmacherei.
Kritik an Insitutionen und politischen Einrichtungen ist wichtig - man sollte jedoch bei den Fakten bleiben. Für manche Politiker zu schwer.
Keinesfalls möchte die Geldmarie nur Lobgesang über die EU verbreiten - und doch gehören auch deren Verdienste einmal betrachtet:
Ganz weit oben (und auch allgemein bekannt) sind Grenzöffnungen bzw. Wegfall von Zöllen. Der Binnenhandel in der EU profitierte davon massiv und Österreich sogar überdurchschnittlich stark - schließlich ist man in Österreich nur so von ex-kommunistischen Staaten umgeben. Und genau in diese Staaten wurde viel investiert und es kam auch schon einiges an Rendite zurück. Bankenkrise ausgenommen;-)
Dass man seinen Reisepass bei den meisten Autourlauben zu Hause lassen kann und dass man an der Grenze nicht mehr sekkiert wird bzw. im Stau steht, haben auch schon viele Menschen wieder vergessen. Die Reisefreiheit gilt übrigens auch für Haustiere - das war nicht immer so!
Euro-Einführung. Der Wegfall von Wechselspesen und schlechten Wechselkursen bzw. Barbehebungskosten bei Bankomatbehebungen spart Privatpersonen wie auch Gewerbetreibenden viel Geld. Auch die zumeist kostenlose (je nach Kontopaket) EU-Binnenüberweisung darf als Rieseneinsparung gefeiert werden. Schon in der aktuellen Finanzkrise hat sich die Stabilität des Euros bewährt.
Förderung von Regionen, Berufsgruppen (Bergbauern, Bauern, Forschung etc.) bringen auch Österreich weiter - auch wenn man Nettozahler ist. Auch in Sachen Umweltschutz brachte man schon einiges (wenn auch nichts Bannbrechendes) zusammen.
Transparenz bei Lebensmittel: Auch hier hat sich einiges zum Positiven verändert. Wer genau liest, findet mittlerweile die Inhaltsstoffe von Lebensmitteln auf der Verpackung. Mit dem Ursprungsland wurde es allerdings schon etwas schwieriger...
Niederlassungsfreiheit/Wettbewerb: Hat man früher noch schwer um einen Standort kämpfen (und bezahlen müssen), ist dies schon lange kein Problem mehr - man muss nur die lokalen Bedingungen erfüllen. Ein Fiat-Autohändler dürfte nunmehr auch Toyotas verkaufen - passiert zwar kaum, aber kann ja noch werden...
Post: Die Zeiten des Postmonopols sind fast vorbei - ab 2011 sind die Postmärkte komplett geöffnet und die Post verliert auch noch das Briefmonopol. Ob das anfangs Vorteile für die Konsumenten bringt, darf bezweifelt werden - a la longue hat aber gute Konkurrenz noch immer den Markt belebt.
Telefonie: So billig wie heute war Mobiltelefonie (und auch das langsam sterbende Festnetz) noch nie. Zuerst war es die hohe Anzahl an Anbietern, die die unverschämten Preise drückten - nun macht die EU der Abzocke im Roaming-Geschäft in soliden Etappen den Garaus. Auch die Abrechnungsmodalitäten werden sich aufgrund EU-Verordnungen noch kundenfreundlich verbessern.
Rauchen: Auch wenn die Geldmarie kräftig pofelt - so manche Verordnung mach Sinn. Und wenn es nur die "netten" Texte auf den Packungen sind, welche wohl früher oder später von noch "netteren" Bildern abgelöst werden.
Steuern: Einige unsinnige Steuern (wie z.B. die heimische Getränkesteuer) wurden schon abgeschafft. Falls ein EU-Beamter hier liest: Die Werbesteuer können Sie bei nächster Gelegenheit auch gleich kippen.
Verkehr: Zuerst mussten sich zwar die Österreicher von den gelben Bodenmarkerungen trennen (was nicht unbedingt die beste Verkehrsidee der EU war) - aber eine Vereinheitlichung der Verkehrsregeln in Europa macht sicher Sinn. Die Briten werden wir zwar nicht so schnell auf die rechte Fahrbahnseite bringen, warten Sie aber auf einen England-Flug zu lange bzw. hat Ihre Bahn massive Verspätung gibt es dank der EU einiges an Geld zurück.
Ausweis: Ein genormter Reisepass ist im Werden - aus 110 unterschiedlichen Führerscheinformaten möchte man am Ende der EU-Tage eine Karte zaubern.
Diskriminierende Gesetze: Eine wichtige Kontrollfunktion der EU. Menschenrechtsfeindliche Gesetzgebung aus dem geistigen Mittelalter wird zusehends aus den europäischen Gesetzbüchern entfernt.
Gesellschaftliche Veränderungen und sinnvolle Vereinheitlichung von Gesetzen benötigt Zeit. Die oben genannten "Taten" der EU sind nur eine kleine Auswahl der täglichen Arbeit.
Man überlege nur, wie lange man in Österreich Stempelmarken kleben musste bzw. auf einen Scheckkarten-Führerschein wartete. Irgendeinen gibt es immer, der gerade (oft nur, um politisches Kleingeld zu machen) zu sinnvollen Änderungen "Njet" sagt. Gar nicht so selten ist das auch Österreich.
Abschließend noch die Gretchenfrage: Türkei in die EU - ja oder nein?
Die Geldmarie hat hier eine (relativ) klare Meinung: Derzeit ist ein Beitritt der Türkei schon alleine aus wirtschaftlichen Gründen nicht zu verantworten. Zuerst muss die zuletzt erfolgte Ost-Erweiterung der EU verdaut werden. Daran wird man durchaus noch lange knabbern.
In dieser Zeitspanne (10 Jahre oder mehr) gilt es aber auch für die Türkei noch eine Reihe von Hausaufgaben zu erledigen. Darüber hinaus muss sich die EU verständigen, wieweit man mit einer EU-Erweiterung überhaupt noch gehen möchte. Russland? Ukraine? Israel? Alle 3 genannten Länder (und auch andere) wären zumindest genauso europareif wie die Türkei - wenn (aufgrund von Mentalitätsunterschieden) nicht sogar reifer...
Ein baldiger Beitritt der Türkei mit allen Rechten würde im Westen für gröbere soziale Konflikte sorgen (und deren gibt es ohnehin schon genug) - also zuerst (und das gilt für alle Beteiligten) Hausaufgaben machen.
Die Geldmarie meint: Europa ist ein feines Jahrhundertprojekt - man sollte es aber den Leuten besser verkaufen. Die EU muss allerdings einen Kurswechsel machen: Mehr Transparenz und Information für die Menschen - weniger Politik für die Konzerne.
Ad hoc-Meldung - Juni 2009